04.10.2016
Christliche Vollkommenheit und menschlicher Perfektionismus
Eine Betrachtung im Geist von Mutter Julia Verhaeghe
Der menschliche Perfektionismus

Die Größe und Schönheit der wahren Vollkommenheit können wir deutlicher erfassen, wenn wir zuerst ihr Trugbild, den menschlichen Perfektionismus, in Kürze erwägen. Mutter Julia, der die innere Not des Menschen unserer Tage klar vor Augen stand, sagte: „Die Kinder dieser Zeit sind für den Perfektionismus sehr anfällig.“ Menschlicher Perfektionismus ist ein Vollkommenheitsideal, das nicht von Gott kommt, sondern vom Menschen gemacht wird, der sich selbst, nach seinen eigenen Vorstellungen und mit seiner eigenen Kraft, verwirklichen möchte. Wenn wir dieser Haltung verfallen, sind wir zu sehr mit uns selbst und unseren eigenen Gedanken beschäftigt. Dann suchen wir das menschlich Perfekte: eine Welt ohne Sünden, einen Ehepartner ohne Schwächen, Vorgesetzte ohne Fehler. Als Folge davon kommt es oft zu Mutlosigkeit, zu Ärger und zu einer gewissen Unfähigkeit, die guten Seiten der Mitmenschen zu sehen und dafür dankbar zu sein. Der Perfektionismus kann das gemeinschaftliche Leben, die Einheit zwischen Ehepartnern, das gegenseitige Vertrauen unter den Menschen und das Klima am Arbeitsplatz schwer belasten.
Im Letzten ist der Perfektionismus eine Form des Stolzes. Wenn wir davon befallen sind, tun wir uns schwer, eigene Gedanken und Vorstellungen aufzugeben. Wir treffen dann zwar Urteile, die Keime der Wahrheit enthalten, aber es fehlt uns an Liebe, Güte und Wohlwollen. Treffend bemerkte Mutter Julia: „Tugend ohne Liebe führt zum Perfektionismus. Der Christ darf kein ‚Gentleman‘ sein, der das Perfekte aus Selbstsucht sucht.“ Wenn sich im menschlichen Zusammenleben oder bei einer Arbeit der Perfektionismus breit macht, entsteht meistens eine gespannte Atmosphäre. Dann genügen kleine Fehler oder Missverständnisse, um böse Worte auszulösen.
In der Haltung des Perfektionismus vergleichen wir uns nicht selten mit anderen Menschen und streben nach einem selbstgemachten Ideal, welches nicht dem Bild entspricht, das Gott für uns entworfen hat. Mit viel Anstrengung suchen wir unser eigenes Ideal zu verwirklichen, anstatt in Freude mit jenen Gaben zu dienen, die Gott uns geschenkt hat. Manche Eltern machen diesen Fehler, wenn sie von ihren persönlichen Vorstellungen über ihre Kinder nicht ablassen wollen. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir wohl alle zugeben, dass wir manchmal so sehr mit eigenen Gedanken beschäftigt sind, dass wir das Leid der anderen und die vielen Nöte in der Welt zu wenig sehen.
Die christliche Vollkommenheit

Der Blick der Liebe
Die Bereitschaft zur Vergebung

In seinem Leben hat Jesus immer wieder Sünden vergeben und uns geboten, „siebenundsiebzigmal“ (Mt 18,22), also immer, zu vergeben. Als Er nach der Auferstehung seinen Aposteln begegnete, die Ihn aus Angst in den bitteren Stunden des Leidens verlassen hatten, machte Er ihnen keine Vorwürfe. Er brachte ihnen den österlichen Frieden. Und Petrus, der Ihn dreimal verleugnet hatte, musste kein öffentliches Schuldbekenntnis ablegen und sein Versagen nicht lang erklären. Er musste dem Herrn nur seine ganze Liebe bekunden, und zwar dreimal ohne Zögern.
Wenn wir nach christlicher Vollkommenheit streben, sind wir bereit zu vergeben. Die Liebe zum Herrn und das Vertrauen auf seine Barmherzigkeit geben uns die Kraft dazu. Als Perfektionisten hingegen tun wir uns schwer, anderen zu vergeben und in aller Einfachheit persönliche Fehler einzugestehen. Wir konzentrieren uns dann zu sehr auf das Unkraut der Sünde und können uns deshalb nicht über den Weizen der Liebe freuen, den es auch gibt. Indem wir das Unkraut bekämpfen, schaden wir auch dem Weizen. In dieser Versuchung sind wir häufig nachtragend und bewahren in unserem Denken ein Schuldregister über eigene und fremde Fehler. So gelangen wir nicht zum inneren Frieden und zum wahren Glück, obwohl wir vielleicht manche gute Taten vollbringen. Ist es nicht schade, wenn uns die Heiterkeit der Seele und die Freude an Gott fehlen?
Jede menschliche Gemeinschaft lebt von der Vergebung. Weil der Herr uns seine vergebende Hand gereicht hat, müssen auch wir sie anderen reichen, müssen wir auch uns selbst vergeben. Da Gott uns annimmt, dürfen und sollen wir uns selber und andere annehmen, auch wenn noch manches wachsen und reifen muss. Der Mensch, der nach wahrer Vollkommenheit strebt, ist ein Mensch der Hoffnung. Er kann sogar über eigene Fehler schmunzeln. Er lässt sich gerne helfen. Mit frohem Mut beginnt er jeden Tag von neuem. In diesem Sinn machte Mutter Julia an einem Festtag folgenden Aufruf: „Lasst uns im Licht des heutigen Tages einander ganz neu gegenüberstehen, so als ob wir uns zum ersten Mal begegneten. Lasst uns alles vergessen, was wir in unserem Gedächtnis aufbewahrt haben. Wir wollen neu beginnen in der Gnade und im Glauben.“ Ist es nicht tröstlich, dass wir in der Liebe Christi immer wieder neu beginnen dürfen?
Freilich fordert die Liebe, die man von der Wahrheit und Gerechtigkeit nicht trennen kann und trennen darf, in verschiedenen Situationen auch die Stellungnahme und das deutliche Wort. Immer wieder hat Jesus der Sünde und dem Bösen durch klare Worte Einhalt geboten. In einer Zeit, in der ein falsches Verständnis von Liebe und Barmherzigkeit sehr verbreitet ist, dürfen wir das nicht vergessen. Falsche Nachgiebigkeit und Güte führen zu vielen Kompromissen mit der Sünde. Es ist gerade die Liebe, die uns verpflichtet, die Sünde zu überwinden.
Der Dienst an der Kirche
Mutter Julia ermutigte uns, nach wahrer Heiligkeit zu streben, um lebendige Glieder der Kirche und Werkzeuge Gottes in der Welt zu sein: „Die Kirche von heute braucht mehr denn je Heilige. Lasst uns die Heiligkeit füreinander erbitten und darin wachsen, um Gott zu ehren und für Gottes Dienst unter den Menschen fähig und fruchtbar zu sein.“